Von der nicht immer defizienten Aufmerksamkeit
Wie groß ist die Differenz zwischen Langeweile und Superstimmung? Zwischen ADS und größter Aufmerksamkeit? Drei Euro exakt, das ist der Preis für zwei Austern.
Aber damit das jemand begreift, muss ich weiter ausholen. Die Loser in der Schule sind die Jungen. Wir bekommen sie nach vier Jahren in der Grundschule. Was sie dort machen oder sogar lernen, fragt man sich:
Auf jeden Fall können besonders die Jungs weder lesen noch schreiben, nicht stillsitzen, eine Seite nicht ordentlich einteilen, und die Schrift! Als wäre ein versammelter Hühnerstall über das Blatt gelaufen!
Ihre Defizite bekommen klingende Namen, die man früher nicht kannte: ADS-Syndrom, ADHS-Syndrom, Zappelphilipp-Syndrom, LRS-Schwäche usw.
Man kann also spätestens in Klasse 5 sagen, wer in Klasse 7 oder 8, während der Pubertät, denn die kommt ja auch noch, sitzen bleiben und höchstwahrscheinlich nach 9 Schuljahren ohne Schulabschluss gehen wird. Anschließend Schwierigkeiten bei der Berufsausbildung, Schwierigkeiten, den Versuchungen der Konsumgesellschaft zu widerstehen, d.h. Tendenz zum Moped-Klau oder bei zurückhaltenderen Typen Tendenz zu Drogen oder Alkohol. Den Rest der „Laufbahn“ kann man sich unschwer ergänzen.
Wir versuchen also gegenzusteuern und die bedürftigen Kameraden so früh wie möglich zu erkennen und zu fördern. Wir fördern in Rechtschreibkursen und ich mache einen Leseförderungs-Kurs.
Jeden Dienstag nach der Schule kommt die Gruppe schon ziemlich kaputt vom Vormittag für zwei Schulstunden zu mir. Die Deutschlehrer haben sie ausgesucht.
Unter anderem lesen wir kleine Geschichten, wobei es mehr um die Lesetechnik geht als um den Inhalt. In einem Text handelt es sich um Perlentaucher, die ihre Schätze am Meeresboden in Muscheln finden. Das Interesse ist plötzlich da: Was sind das für Muscheln? Wo leben sie? Wie entstehen Perlen? Was sind denn Austern? Wieso essen die Menschen, besonders die Franzosen, so viel Austern und Muscheln, wo diese doch die Aufgabe haben, das Meerwasser zu reinigen, und man so, auf den Hausputz übertragen, den Dreckbeutel aus dem Staubsauger futtert? Fragen über Fragen.
Ich bemühe mich redlich, freue mich ja über das lebhafte Interesse, das allerdings kaum die Lesetechnik betrifft. Am Ende verspreche ich ihnen, meine am Strand gesammelten Austernschalen einmal mitzubringen – und vergesse es prompt. Aber die Schüler denken daran, sie vergessen zwar ihren Lese-Ordner und auch sonst so ziemlich alles, aber das mit den Muscheln und Austern, das wissen sie noch.
Sie erinnern mich nach einer Woche, nach zwei Wochen. Nun muss ich mal an meinem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom arbeiten. Am Samstag in Wissembourg gehe ich in den Fischladen und kaufe zwei Austern, zwei lebendige. Warum soll ich leere, tote Austernschalen anschleppen, wo Frankreich doch so nah ist!
Die Fischhändlerin schaut mich komisch an, zwei Austern kauft niemand, ob ich wohl von der Lebensmittel-Kontrolle komme? Ich lasse mir noch ein paar Algen dazutun und verwahre alles ganz unten im Kühlschrank. Am Dienstag drauf nehme ich sie mit, dazu ein Austernmesser, einen Handschuh, eine Zitrone, ein Küchentuch.
Die Jungen fragen tatsächlich nach den Meeresgetier, und jetzt habe ich sie endlich dabei! Aber: ein anderer Kurs ist wegen Erkrankung der Lehrerin hinzu gekommen, es ist der Kurs zur Förderung der Rechtschreibung, und es sind lauter Mädchen!
Dreißig Schüler und zwei Austern! Es geht, es geht tatsächlich. Zuerst erklärt meine Gruppe der Mädchengruppe, warum das heute ein besonderer Tag ist und warum wir gleich Austern anschauen und sogar essen werden.
Die Spannung steigt immer mehr. Ich hole die erste Auster heraus und zeige sie ausgiebig. Wer will, darf sie auch mal anfassen. Und es kommen die Kommentare: „Man sieht ja gar nichts. Wo ist denn die Auster?“ – „Die ist da drin und sie hält die Tür schön zu, damit ihr keiner zu nahe kommen kann.“ – „Und was machen wir jetzt?“ Ich versuche es mit Anklopfen, aber es tut sich nichts. Die Schüler lachen.
Nun nehme ich mein Austernmesser und drücke die beiden Hälften auseinander. Die Kinder schauen fasziniert zu. Ich gebe ein paar Tropfen Zitronensaft auf den Austernkörper und weise die Kinder daraufhin, wie die Auster gezuckt hat, denn sie lebt ja noch. Ein Aufschrei geht durch die Menge. Keiner will die rohe, lebende Auster essen. Endlich finden sich zwei Mädchen, die sie sich teilen. Mit von Ekel verzerrten Mienen verfolgen die Schüler das mühsame Mahl. „Wie ist es?“ – „Wie fühlt es sich an?“ – „Wie schmeckt es?“ Die Anteilnahme ist unglaublich.
Die beiden Mädchen schlagen sich wacker, kauen tüchtig und geben nur Positives von sich. Sie wollen ja nicht sagen, dass es vielleicht doch unangenehm oder widerlich war. Überzeugt ist von den Zuschauern trotzdem keiner so richtig. Und so wird dafür plädiert, die zweite Auster am Leben zu lassen! Ein Mädchen mit Salzwasser-Aquarium daheim bekommt sie mit in ihre Schultasche.
Am nächsten Tag berichtet sie, die Auster habe sich geöffnet, es gehe ihr gut. Ein Aufatmen ist zu spüren. Die Schüler haben mir den Mord an der Auster schon irgendwie übel genommen. Ob sie das beim nächsten Schnitzel mal zum Nachdenken bringen wird? Eher nicht, dafür müsste man wohl erst einen Schlachthof besichtigen.
Nächstes Mal werde ich mit einem Text über Gänsestopfleber das Lesen üben!
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